DER SPIEGEL
No 9, 23.02.1998
Wladyslaw Szpilman |
Der Musiker Wladyslaw Szpilman, der im Inferno von Warschau wie durch ein Wunder als einziger seiner Familie den Nazi-Schergen entkam, preist in einem Buch einen deutschen Wehrmachtsoffizier als seinen Retter. |
Der alte Mann liebt seine Stadt. Hier, wo er seit den zwanziger Jahren lebt, ist sein Zuhause, hier hat er als Komponist und Pianist einen klangvollen Namen. Aber es gibt Plätze und Straßen, zu denen bringen Wladyslaw Szpilman, 86, keine zehn Pferde, und auch kein Journalist oder Kamerateam. Der ,,Umschlagplatz" ist so ein Un-Ort. Obwohl es ihn nicht mehr in seiner alten Form gibt, hat jeder, der sich in Warschau für Geschichte interessiert, von ihm gehört. Von dort gingen die Deportationszüge ab, mit denen die Juden der Stadt 1942/43 nach Treblinka verfrachtet wurden. Gegen die Aleja Niepodleglosci aber hat Szpilman nichts einzuwenden.,îBitte schön, das ist kein Problem, fahren wir dorthin.î Sein Deutsch ist von alter Schule. Hier in der Nummer 223 der verkehrsreichen Straße hielt er sich in den letzten Monaten des Krieges versteckt, nachdem seine Möglichkeiten, bei polnischen Freunden Unterschlupf zu finden, erschöpft waren. Dem Tode nah, geisterte er damals als rußverschmiertes Phantom durch die Ruinen des Häuserblocks. Seinen Mitmenschen ging er tunlichst aus dem Weg, immer auf der Suche nach Essensresten und auf der Hut vor den Razzien der deutschen Häscher und vor der Gnadenlosigkeit der polnischen Denunzianten und Spitzel. Alle Warschauer hatten nach dem gescheiterten Aufstand im Oktober 1944 die Stadt verlassen müssen. In der menschenentleerten Metropole hauste Szpilman als einsamer Robinson in einer Trümmer Wüstenei, am Leben gehalten allein von der Hoffnung auf das Ende des Krieges. Im Treppenhaus nahmen dann doch Erinnerungen in ihm hoch, die keine Zeit heilen kann. Zögernd geht der alte Herr die Stufen hoch in die Wohnung im ersten Stock. Flur, Küche, Wohnzimmer, schlafwandlerisch tappt er durch die Räume, die ihm vor über 50 Jahren Zuflucht geboten hatten. Staunend sieht er sich um:îDamals waren hier die Wände angebrannt, die Fensterscheiben zerborstenî. Heute wohnt hier - ,,Regie: Reiner Zu- fall" - der deutsche Schriftsteller Peter Lachmann, 62. Er betreibt seit 1985 in Warschau mit seiner Frau, Jolanta Lothe, einer polnischen Schauspielerin, ein Avantgarde-Theater. Auf dem Programm stehen vor allem Stücke, die sich mit den deutsch-polnisch-jüdischen Verwerfungen befassen. Der greise Musiker, der dem deutschen Theatermacher gegenübersitzt, ist um gute Haltung bemüht.Wie von einer unsichtbaren Partitur der Geschichte abgelesen, kommt das Unvergeßbare über seine Lippen. Hier habe ihn im November 1944 ein Hauptmann der deutschen Wehrmacht überrascht.îDas ist das Ende, dachte ich, ich hatte keine Kraft mehr, davonzulaufen oder mich zu wehren.î Aber was er zunächst für das tödliche Finale hielt, erwies sich als Glücksfall. Dieser Deutsche war anders, er schämte sich der Untaten seiner Landsleute. Der Offizier von ungewöhnlichem Format half dem Halbverhungerten, ein besseres Versteck zu finden, versorgte ihn mit Lebensmitteln, einer Bettdecke und der frohen Botschaft, daß der Krieg bald mit der Niederlage der Deutschen vorüber sei.,îIhm verdanke ich mein Leben.î Zuweilen überfallen Szpilman irrationale Selbstanklagen: ,,Warum habe gerade ich überlebt?" Damals, als seine ganze Familie, Vater, Mutter, seine Schwestern Regina und Halina, sein Bruder Henryk und er selbst, auf dem ìUmschlagplatzî zum Abtransport in das Vernichtungslager standen, sortierte ihn einer der jüdischen Ghetto-Polizisten - gegen seinen Willen - aus der Reihe der Todgeweihten aus. Szpilman glaubte, gegen dieses aus den Erfahrungen vieler Leidensgenossen bekannte Survivor-Syndrom gefeit zu sein. Denn gleich nach Kriegsende hatte er sich seine Erlebnisse von der Seele geladen. Er brachte 1946 seine Erlebnisse als Buch heraus: ,,Smierc miasta" (Der Tod einer Stadt). In einem eher kühlen Stil, versetzt mit Sarkasmen und sanfter Ironie, berichtet der Musiker dann, was ihm und seinen Leidensgenossen widerfahren war - in der Zeit zwischen 1939, als die Deutschen kamen, um Polen zu ihrem ,,Nebenland" zu machen, und 1945, als die Sowjetrussen Warschau einnahmen, um das Land wenig später zu ihrem Satellitenstaat zu machen. Mehr als fünf Jahre nationalsozialistischer Terror. ìPolen war seit jeher der jüdische Sumpfquell", schrieb NS-Propagandist Helmut Gauweiler. Unfaßbar sind bis heute die Taten der deutschen Mörder, unfaßbar die Leiden der Opfer. Rund 500000 Juden waren in das 1940 errichtete Warschauer Ghetto eingepfercht. Über 300 000 davon wurden 1942, in nur wenigen Monaten, perfekt organisiert von SS und Reichsbahn, in die Todeslager deportiert, Zigtausende starben an Hunger und Epidemien, Zigtausende wurden erschossen.
Nur wenige überlebten, als im Frühjahr 1943 nach einem Aufstand SS- und Polizeiführer Jürgen Stroop das Ghetto in Schutt und Asche legte. Von den insgesamt über drei Millionen Juden in Polen über- standen nicht einmal 300 000 die Nazi-Zeit. Auch über zwei Millionen Polen christlicher Konfession fielen dem Teutonen-Furor zum Opfer. Polen,îdas Generalgouvernementî, wie die Deutschen einen Teil davon nannten, war der Exerzierplatz der deutschen Ausrottungspolitik. Was Szpilman mitmachte, war die Ghetto-Hölle, die damals die Deutschen den Juden in Warschau bereiteten. Eine Hölle, in der sich zwischen Leichen und Elenden Menschenjäger, Sadisten, Kollaborateure und Spitzel herumtrieben, aber in der es auch Helden und Widerstandskämpfer gab, die den Tod dem Verrat vorzogen. Szpilmans Buch verschwand in Polen bald wieder von den Ladentischen, mitsamt der in ihm unverblümt dargestellten Alptraumwelt. Auch ein darauf basierender Film (,,Der Robinson von Warschau"), für den immerhin so berühmte Schriftsteller wie Czeslaw Milosz und Jerzy Andrzejewski das Drehbuch lieferten, war bald nicht mehr gefragt. Zu pessimistisch, monierte die Zensur. Die Vergangenheit wurde nun auch in Polen in den Propagandamühlen zu Nutzen und Frommen der neuen Machthaber verhackstückt. Schon beim Erscheinen des Buches hatte die neue Zeit signifikante Korrekturen an der alten Zeit vorgenommen. Der deutsche Retter namens Wilm Hosenfeld durfte kein Deutscher sein. Ein guter Deutscher konnte damals in Polen nur ein Österreicher sein. In der nächsten Woche erscheint Szpilmans Buch im Econ-Verlag zum erstenmal vollständig auf deutsch. Titel:ìDas wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen 1939 - 1945î(234 Seiten;39,80 Mark). Einen Auszug veröffentlicht der SPIEGEL vorab (Seite 216). Hosenfeld hat in der deutschen Ausgabe wieder seine deutsche Staatsangehöngkeit. Nein, Rachegefühle gegenüber den Deutschen kennt Szpilman nicht:,,Ich liebe ihre Kultur und ihre Musik." Deutsch- land und den Deutschen ist er buchstäblich existentiell verbunden. Über seinem Steinway-Flügel zu Hause in dem kleinen Reihenhaus im Stadtteil Mokotow hängt ein Brief von Johannes Brahms aus dem Jahre 1872 an der Wand. Den präsentiert er mit Stolz, auch wenn er die Sütterlin-Schrift auf dem autographischen Liebhaberstück nicht lesen kann. Nie habe er aufgehört, die Deutschen zu bewundern.,,Sie sind die Größten in der Musik." Und weil er es ganz ohne Ironie meint, durchfährt es einen, wenn der Survivor sagt:îSie haben ein großartiges Talent für die Organisation." Er war 20, als er 1931 für zwei Jahre zum Studium an die Musikakademie in der Berliner Fasanenstraße ging. Noch heute schwärmt er von den Lehrern dort. Aber als Hitler und seine Nationalsozialisten den Ton anzugeben begannen, ging er wieder zurück nach Warschau und fand eine Anstellung beim Rundfunk. Als er am Sonnabend, den 23. September 1939, im Radio Warschau Chopins Barcarole vortrug, stoppte eine deutsche Granate den Sender. Knapp zwei Wochen später hielt Wagner-Fan Hitler die Siegesparade in der Weichselstadt ab. 1945, als der Polnische Rundfunk nach der Nazi- Götterdämmerung seine Musiksendungen wiederaumahm, spielte Szpilman zur Eröffnung exakt dasselbe Klavierstück von Chopin, bei dem ihn Hitlers Bomben unterbrochen hatten. Später avancierte er zum Musikdirektor von Radio Warschau. Bei Kriegsende lebte sein deutscher Wohltäter noch, allerdings hinter den Gitterzäunen eines sowjetischen Lagers. Sieben Jahre später war Wilm Hosenfeld tot.
Hauptmann Wilm Hosenfeld in Polen 1940
Wegen angeblicher Geheimdiensttätigkeit zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, verstarb er 1952 im Alter von 57 Jahren in Stalingrad. Vergebens hatte seine Frau versucht, den Vater ihrer fünf Kinder freizubekommen, vergebens waren auch die Bemühungen denjenigen, die ihm ihr Überleben in Warschau zu verdanken hatten. Szpilman war nicht der einzige gewesen, dem der Offizier, in der polnischen Hauptstadt für den Sportbetrieb und die Stadionanlagen zuständig, geholfen hatte. Auf einer Postkarte hatte der Kriegsgefangene 1946 seiner Frau Personen in Polen genannt, die ihm ìzu Dank verpflichtetî seien, darunter auch den Pianisten von Warschau. In seinen Tagebüchern, die erhalten sind, erweist sich Hosenfeld, im Zivilberuf Lehrer, als ein tiefgläubiger Katholik. Er notierte sich, was er an Greueltaten sah. Sein Chef in Warschau, Oberfeldkommandant Rossum, General I seines Zeichens, hingegen gab nach dem Krieg zu Pro- tokoll: ìDaß mit den Juden nicht sanft umgegangen wurde, war mir klar, daß sie aber erschossen und vergast wurden, habe ich damals nicht erfahren.î Eine kleine Außwahl aus den Aufzeichnungen des Wehrmachtsoffiziers ist nun im Anhang des Szpilman-Buches zum erstenmal veröffentlicht. Dort findet sich auch ein fulminanter Essay von Wolf Biermann. Mit Verve und Tiefenschärfe erörtert der Dichter, der den ìGroßen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volkî des jiddischen Autors Jizchak Katzenelson übersetzt hat, die morali- schen Fragen, die Szpilmans ,,Erinnerungen" aufwerfen: Kollaboration und Antisemitismus der Polen, das Heldentum jener Polen, die ungeachtet der angedrohten Todesstrafe den Juden Verstecke anboten, ìdas herzzerreißende Dilemma der Judenräte in den Ghettos" sowie ìdie Legende von den Juden, die sich nicht gewehrt hätten". Hauptmann Hosenfeld, dem ,,Retter der Verfolgten", will Biermann ein Bäumchen verschaffen in der ìAllee der Gerechten" in Jad Vaschem, der Gedenkstätte der Juden in Jerusalem. So wird dort ein ìGojî geehrt, der in der Zeit des Holocaust Juden gerettet hat.îWer soll das Bäumchen pflanzen?î fragt der Dichter.SeineAntwort:îWladyslaw Szpilman, und sein Sohn Andrzej wird ihn dabei stützen.
Rolf Rietzler
Im Rundfunk 1945 mit Prof. Roman Jasinski
Ich war allein. Auf dem Terrain einer Stadt, die noch vor zwei Monaten anderthalb Millionen Menschen gezählt hatte, die eine der reicheren Städte Europas gewesen war und jetzt mit den Schornsteinen verbrannter Häuser gen Himmel ragte, mit Wänden, die Bomben übriggelassen hatten, einer Stadt in Schutt und Asche, unter denen die jahrhundertealten Kulturgüter meines Volkes und die Leiber Hunderttausender Ermordeter begraben lagen, die in der Wärme dieser letzten Herbsttage des Jahres 1944 verwesten und die Luft mit Gestank erfüllten. Wenn der Tag anbrach, tauchten Leute in den Warschauer Ruinen auf, die aus den umliegenden Ortschaften kamen. Sie schlichen durch die Trümmer, um zu plündern, was an Brauchbarem übrig- geblieben war. Einer hatte sich mein Ruinendomizil ausgesucht. Er durfte mich hier nicht finden. Keiner durfte wissen, daß ich hier war. Als er die Treppe heraufkam und nur noch zwei Stock unter mir war, brüllte ich brutal und drohend: ,,Was ist los? Rrraus!" Er nitzte davon wie eine aufgescheuchte Ratte; der letzte der Elenden, der sich vor meiner - des letzten armen Teufels - Stimme erschrocken hat. Im November fing es an, kühl zu werden, besonders nachts. Um nicht verrückt zu werden vor Einsamkeit, beschloß ich, ein möglichst geregeltes Leben zu führen. Ich hatte noch immer die Uhr, meine Vorkriegs-îOmega", die ich, zusammen mit dem Füllfederhalter als einziger persönlicher Habe, hütete wie meinen Augapfel. Nach dieser gewissenhaft aufgezogenen Uhr entwarf ich einen ,,Stundenplan". Den Tag über lag ich reglos da, um meine wenigen Kraftreserven zu schonen, die ich noch in meinem Körper hatte. Einen Rest Zwieback und ein Glas Wasser teilte ich mir sorgsam ein. Mit geschlossenen Augen rief ich mir Takt um Takt sämtliche Kompositionen ins Gedächtnis zurück, die ich je gespielt hatte. Oder ich ging systematisch den Inhalt aller Bücher durch, die ich je gelesen hatte, und wiederholte im Gedächtnis mein Englischvokabular. Nachts begab ich mich auf Nahrungssuche. Ich stöberte in den Kellern umher und in den Brandresten der Wohnungen, fand dort ein bißchen Grütze, da ein paar Stückchen Brot, Wasser in Wannen oder Eimern und Krügen. Bei diesen Wanderungen kam ich immer wieder an der verkohlten Männerleiche vorbei, die auf der Treppe unterhalb meines Verstecks lag - meinem einzigen Gefährten in dieser Zeit, dessen Anwesenheit ich nicht fürchten mußte. Am 15. November fiel der erste Schnee. Die Kälte machte mir auf meinem Dachboden-Torso unter dem Stoß Lumpen, die ich mir von überall her zusammengesucht hatte, mehr und mehr zu schaffen. Jetzt waren die Lumpen, wenn ich morgens erwachte, dicht mit weißem flauschigen Schnee bedeckt, der von allen Seiten hereinwehte. An einem dieser Tage betrachtete ich mein Gesicht in einer Glasscheibe. Im ersten Moment wollte ich einfach nicht glauben, daß die abscheuliche Fratze, die ich da sah, ich war: zugewachsen mit verfilzter Haarwolle; die Haut beinah schwarz, die Stirn bedeckt mit schorfiger Flechte. Doch mehr als alles andere quälte mich die Ungewißheit dessen, was in den Kampfgebieten vor sich ging. In Warschau selber war der Aufstand offensichtlich niedergeschlagen worden. Doch vielleicht gab es ja noch Aktivitäten an der Peripherie? Vielleicht jenseits der Weichsel in Praga? Wo waren die sowjetischen Truppen? Welche Fortschritte hat- te die Alliertenoffensive im Westen gemacht? Von der Antwort auf diese Fragen hing mein Leben ab oder mein Tod, der in Bälde eintreten mußte - wenn nicht aus Hunger, dann aus Kälte. Selbst wenn mich die Deutschen in meinem Schlupfwinkel nicht entdeckten. Es dauerte nur ein paar Tage, bis sie mich ins Visier bekamen. Vom Dach des Krankenhauses gegenüber schossen sie auf mich. Zum Nachdenken war keine Zeit: sofort das Haus verlassen. Ich stürzte die Treppe hinunter und auf die Sedziowska hinaus, jagte die Straße entlang hin zu den Ruinen der einstöckigen Villen, die einmal die Staszic-Siedlung gewesen waren. Meine Lage war wieder einmal hoffnungslos: Ich irrte zwischen den völlig ausgebrannten Häuschen umher. Wasser, Es- sensreste oder auch nur ein Versteck gab es dort nicht. Erst nach einer Weile bemerkte ich ein hohes Haus, das mit der Vorderfront ebenfalls auf die Aleja Niepodleglosci hinausging und mit der Rückseite auf die Sedziowska-Straße. Das einzige mehrstöckige Gebäude in der Gegend. Bei näherer Erkundung stellte sich heraus, daß das Haus im Kern völlig ausgebrannt war, die Flügel jedoch fast unbeschädigt waren. In den Wohnungen standen Möbel, die Wannen waren mit Wasser gefüllt, in den Speisekammern noch Vorrate. Meiner alten Gewohnheit folgend, richtete ich mich auf dem Dachboden ein. Das Dach war insgesamt heil, nur hier und da von Schrapnellsplittern durchlöchert. Es war wärmer als in meinem vorigen Versteck, aber Fluchtwege von hier oben gab es keine. Nach zwei Tagen begab ich mich auf Nahrungsmittelsuche. Diesmal wollte ich mir einen Vorrat anlegen, um mein Versteck nicht allzuoft verlassen zu müssen. In der Speisekammer einer Küche fand ich Blechbüchsen, Säckchen und Tüten, deren Inhalt sorgfältig geprüft werden mußte. Ich band Schnüre auf, hob Deckel. Ins Herumschnüffeln vertieft, hörte ich plötzlich eine Stimme direkt hinter mir: ìWas suchen Sie hier?" An den Küchenschrank gelehnt, stand ein hochgewachsener, eleganter deutscher Offizier, die Arme vor der Brust verschränkt. ìWas suchen Sie hier?î wiederholte er.îWissen Sie nicht, daß in diesem Augenblick der Stab des Festungskommandos Warschau in dieses Haus einzieht?î Ich sank auf den Stuhl neben der Speisekammertür. chzend starrte ich auf den Offizier. Dann stammelte ich: ,,Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich rühr' mich nicht mehr vom Fleck." ,,ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zu tun!" Der Offizier zuckte die Achseln. ,,Was sind Sie von Beruf?" ìPianist." Er musterte mich aufmerksam, mit sichtbarem Mißtrauen. Dann fiel sein Blick auf die Tür, die von der Küche in die Wohnräume führte. Ihm schien etwas eingefallen zu sein. ,,Würden Sie mir bitte folgen?" Wir traten in das erste Zimmer, dann in das nächste, wo an der Wand ein Klavier stand. Der Offizier deutete mit der Hand auf das Instrument: ,,Spielen Sie etwas!" Dachte er nicht daran, daß das Klavierspiel sofort die in der Nähe befindlichen SS-Männer herbeirufen würde? ìSpielen Sie ruhig! Wenn jemand kommt, verstecken Sie sich in der Speisekammer, und ich sage, daß ich gespielt habe, um das Instrument auszuprobieren." Als ich die Finger auf die Klaviatur legte, zitterten sie. Diesmal hatte ich also zur Abwechslung mein Leben mit Klavierspiel zu erkaufen. Meine Finger waren steif, mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, die Fingernägel ungeschnitten. Ich spielte Chopins Nocturne cis-moll. Der gläserne, klirrende Ton, den die verstimmten Saiten hervorbrachten, hallte in der leeren Wohnung und im Treppenhaus wider, aus den Ruinen flog ein wehmütiges Echo zurück. Als ich geendet hatte, schien die Stille noch gespenstischer. Ein Schuß war unten vor dem Haus zu hören - rauhes deutsches Getöse. Der Offizier sah mich schweigend an. Nach einer Weile seufzte er und knurrte: ìDennoch sollten Sie nicht hierbleiben. Ich bringe Sie aus der Stadt heraus in ein Dorf. Dort sind Sie sicherer."Ich schüttelte den Kopf. Ich kann nicht weg von hier!" erwiderte ich mit Nachdruck. Jetzt schien er zu begreifen, was der eigentliche Grund dafür war, daß ich mich in den Trümmern versteckte. ,,Sie sind Jude?" fragte er. ìJa.î Er ließ sich in den Sessel neben dem Klavier nieder. ,,Nun ja", murmelte er. ,,In diesem Fall können Sie in der Tat nicht weg von hier. " Für längere Zeit schien er in Gedanken versunken, dann wandte er sich mit einer neuen Frage an mich: ,,Wo ist Ihr Versteck?" ,,Auf dem Boden." ,,Zeigen Sie, wie's dort aussieht." Wir gingen die Treppe hinauf. Sorgfältig inspizierte er den Boden. Dabei entdeckte er, was ich bislang nicht wahrgenommen hatte: noch eine Art Stockwerk über dem Boden, etwas wie ein Hängeboden aus Brettern unter der Dachkehle - auf den ersten Blick kaum zu bemerken. Hier sollte ich mich verstecken, und er half mir noch, in den Wohnungen eine Leiter zu suchen. Wenn ich oben auf dem Hängeboden war, sollte ich die Leiter zu mir hinaufziehen. Schließlich fragte er mich, ob ich zu essen hätte. ìNeinî, antwortete ich.îNa ja, macht nichts", warf er hastig hin, als schämte er sich hinterher seines Überfalls.,,Ich werde Ihnen Lebensmittel bringen." Erst jetzt wagte auch ich eine Frage. Ich konnte einfach nicht mehr Iänger an mich halten:,,Sind Sie Deutscher?" Er zögerte, aufgebracht, als hätte ich ihm mit dieser Frage einen Schimpf angetan, schrie er fast seine Antwort heraus: ìJa! Ich bin Deutscher! Und nach alldem, was geschehen ist, schäme ich mich dafür ..." Schroff gab er mir die Hand und ging. Drei Tage dauerte es, bis er wieder erschien. Es war abends und völlig dunkel, als ich es unter meinem Hängeboden flüstern hörte:,,Hallo! Sind Sie da?" ,,Ja, ich bin da ..." Da fiel etwas Schweres neben mir nieder. Durchs Papier hindurch fühlte ich einige Brote und rief: ìWarten Sie einen Augenblick!" Die Stimme aus der Dunkelheit klang ungeduldig: ìWorum geht's? Reden Sie schnell. Der Wachposten hat mich hierhergehen sehen. Ich darf nicht zu lange bleiben." ,,Wo stehen die sowjetischen Truppen?" ,,Halten Sie durch! Nur noch ein paar Wochen. Der ganze Krieg ist spätestens im Frühjahr zu Ende." Danach verstummte er. Plötzlich meldete er sich noch einmal. ,,Sie müssen durchhalten! Hören Sie?" klang es hart, beinahe befehlend, als wollte er mir seine Unbeugsamkeit und seinen Glauben an ein für uns glückliches Ende des Krieges einbleuen. Erst jetzt hörte ich das leise Quietschen der sich schließenden Bodentür. Einförmige Wochen gingen dahin. Es gab Tage, da in der Stille ringsum nicht ein einziger Schuß fiel. Wieder und wieder las ich die Zeitungen, in denen der Deutsche das Brot eingewickelt hatte. Ich stärkte mich an den darin enthaltenen Nachrichten von den deutschen Niederlagen an allen Fronten. Der Stab tat in den Seitenflügeln des Hauses unverändert seinen Dienst. Im Treppenhaus trieben sich Soldaten herum. Nie kam es einem von ihnen in den Sinn, auf meinem Hängeboden nach- zusehen. Vor dem Haus ging eine Wache auf und ab. Tag und Nacht hörte ich ihre Schritte und ihr Stampfen, mit dem sich die Posten ihre kalten Füße aufwärmten. Wenn ich Wasser brauchte, schlüpfte ich nachts in die zerstörten Wohnungen, wo die Wannen bis zum Rand gefüllt standen. Am 12 Dezember kam der Offizier zum letzten Mal. Er brachte mir einen größeren Vorrat an Brot und eine warme Bettdecke. Er erklärte mir, daß er mit seiner Abteilung Warschau verlasse, und beschwor mich, auf keinen Fall den Mut sinken zu lassen, da die sowjetische Offensive mit jedem Tag erwartet werden müsse. ,,Auf Warschau?" ,,Ja. " ,,Und wie, glauben Sie, stehe ich die Straßenkämpfe durch?" beunruhigte ich mich. ,,Da Sie und ich über fünf Jahre diese Hölle durchgestanden haben", erwiderte er, ,,ist es offenbar göttlicher Wille, daß wir überleben. Man muß daran glauben." Wir hatten uns bereits verabschiedet, und er wollte gehen, als mir im letzten Augenblick eine Idee kam, nachdem ich mir lange vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, wie ich mich ihm erkenntlich zeigen konnte, wo er doch um keinen Preis meinen einzigen Schatz, meine Uhr, annehmen wollte: ,,Hören Sie!" Ich faßte ihn bei der Hand und begann überschwenglich auf ihn einzureden: ,,Ich hab' Ihnen bisher meinen Namen nicht genannt. Sie haben mich nicht danach gefragt, aber ich möchte, daß Sie ihn sich merken. Keiner weiß, wie es einmal kommen wird. Sie haben einen langen Weg nach Hause. Ich - falls ich am Leben bleibe - beginne bestimmt sofort hier zu arbeiten, im selben Polnischen Rundfunk wie vor dem Krieg. Sollte Ihnen was zustoßen, und wenn ich Ihnen dann irgendwie helfen kann, denken Sie daran: ìSzpilman - Polnischer Rundfunk.î Er Iächelte wie gewöhnlich: halb abweisend, halb schüchtern, voller Verlegenheit, aber ich fühlte, daß ich ihm eine Freude machte mit meiner in dieser Situation naiven Hilfsbereitschaft. Mit dem Dezember setzte die erste Welle harter Fröste ein, dann kam Weihnachten, dann Neujahr 1945: das sechste Kriegsjahr. Ich lag in der Finsternis und lauschte dem Sturm, der an den zerfetzten Dachrinnen zerrte und gegen die Trümmer anheulte.
1935: Mit Eltern in Warschau
In Gedanken ging ich alle Feiertage durch, erst die Vorkriegsfeiertage
und dann die der Kriegszeit: Ich hatte ein Zuhause, Eltern
und drei Geschwister. Dann hatten wir kein eigenes Zuhause
mehr, aber wir waren beisammen. Später blieb ich allein,
aber von Menschen umgeben. Jetzt war ich einsam wie kein anderer
Mensch auf der Welt. Falls die mich umgebenden Menschen
sich näherten, mußte ich mich in Todesangst verstecken.
Wenn ich leben wollte,mußte ich einsam sein.Am 14 Januar
weckte mich ein ungewöhnliches Treiben. Autos kamen an und
fuhren ab, über die Treppen liefen Soldaten, man hörte
erregte, nervöse Stimmen. Anderntags, frühmorgens, erdröhnte
plötzlich die Front an der Weichsel. Die Geschosse erreichten
nicht meine direkte Umgebung. Aber unter dem unaufhörlichen
Grollen erzitterten die Erde, die Mauern des Hauses, vibrierte
das Blech auf dem Dach, rieselte der Putz von den Wänden.
Das waren bestimmt die berühmten sowjetischen Katjuschas,
von denen man noch vor dem Aufstand soviel gesprochen hatte.
Nach endlosen Stunden verstummte das endlose Artillenefeuer wieder,
doch meine ungeheufe Erregung hielt an. In der Nacht tat ich kein
Auge zu: Falls die Deutschen die Trümmer Warschaus verteidigen
sollten, mußten jeden Augenblick die Straßenkämpfe
beginnen. Gegen ein Uhr hörte ich, wie die Deutschen den
Häuserblock verließen. Es folgte eine unheimliche Stille.
Nicht einmal mehr die Schritte der Wachposten vor dem Haus waren
zu vernehmen. Wurde denn überhaupt gekämpft?
In den frühen Morgenstunden des 17. Januar wurde die Stille
mit einem lautschallenden Ton unterbrochen, den ich am allerwenigsten
erwartet hatte. Radiolautsprecher irgendwo sendeten auf polnisch
Meldungen über die Niederlage Deutschlands und die Einnahme
Warschaus. Die Deutschen hatten sich kampflos zurückgezogen.
Wilm Hosenfeld
Warchau. den 25.07.1942
Wenn das wahr ist, was in der Stadt erzählt wird und zwar
von glaubwürdigen Menschen,
dann ist es keine Ehre deutscher Offizier zu sein, dann kann man
nicht mehr mitmachen, aber ich kann es nicht glauben.
In dieser Woche sollen schon 30000 Juden aus dem Ghetto herausgeführt
sein, irgendwohin
nach osten, was man mit ihnen macht, ist trotz aller Heimlichkeit
auch schon bekannt.
Irgendwo, nicht weit von Lublin hat man Gebäude aufgeführt
die elektrisch heizbare Räume
haben, die durch starkstrom ähnlich wie ein Krematorium geheizt
werden. In diese
Heizkammer werden die unglücklichen Menschen hineingetrieben
und dann bei lebendigem
Leibe verbrannt....An einem Tag kann man so Tausende umbringen,
man spart sich die
Erschießungen und das Erde auswerfen und zuwerfen für
die Massengräber. Da kann die
Guillotine der Französischen Revolution doch nicht mehr mit
und in den russischen GPU-
Kellern hat man solche Virtuosität im Massenmord auch nicht
erreicht
Aber das ist ja alles Wahnsinn, das kann doch nicht möglich
sein. Man fragt sich, warum
wehren sich die Juden nicht, viele, die allermeisten sind durch
Hunger und Elend so
geschwächt, das sie keinen Widerstand leisten können.
Auf der Kommandantur traf ich gestern einen Geschäftsmann
der mich darauf aufmerksam
machte, daß jetzt im Ghetto alles zu haben zu sei und zwar
sehr billig Uhren, Ringe, Gold,
Dollar, Teppiche und was nicht alles. Ein anderer Herr, der mir
auf der Straße begegnet, das
heißt wir trafen uns und unterhielten uns kurz und gingen
auseinander - dann kam er mir
wieder nachgelaufen und fragte, ob ich die Sache mit Schweden
und der Türkei gehört habe. Er erzählte auch von
den Judengreueln und war maßlos empört...
...Überall herrscht der ausgesprochenen Terror, der Schrecken,
die Gewalt Verhaftungen,
Verschleppungen, Erschießungen sind an
der Tagesordnung Das Leben eines Menschen,
geschweige die persönliche Freiheit spielen überhaupt
keine Rolle, aber der Freiheitstrieb ist jeden Menschen und jedem
Volk eingeboren und wird auf die Dauer nicht unterdrückt
werden können. Die Geschichte lehrt, daß die Tyrannei
immer von kurzer Dauer war. Nun kommt noch das entsetzliche Unrecht
der Blutschuld an der Ermordung der jüdischen Bewohner auf
unsere Rechnung. Gegenwärtig läuft eine Vernichtungsaktion
der Juden, die zwar seit der Besetzung der Ostgebiete Ziel der
deutschen zivilen Verwabung unter Zuhilfenahme der Polizei und
der G.Sta.-Po war, aber jetzt scheinbar großzügig und
radikal gelöst werden soll. Es wird glaubhaft von den verschiedensten
Leuten berichtet, daß man das Ghetto in Lublin ausgefegt
hat, die Juden daraus vertrieben und sie massenweise ermordet,
in die Wälder getrieben hat und sie zu einem kleinen Teil
in einem Lager eingesperrt hat. Von Liennstadt [Lodsch], von Kutno
wird erzählt, daß man die Juden, Männer, Frauen
und Kinder in fahrbaren Gaswagen vergiftet, den Toten die Kleider
auszieht, sie in Massengräber wirft und die Kleider zur weiteren
Verwendung den Textilfabriken zuführt. Ensetzliche Szenen
sollen sich abspielen, jetzt ist man dabei, das Warschauer Ghetto,
das etwa 400 000 Menschen zähtt auf ähnliche Weise zu
leeren. Statt der deutschen Polizei hat man ukrainische und litauische
Polizeibataillone dazu herangeholt, aber man kann das alles nicht
glauben, ich wehre mich dagegen, es zu glauben macht aus Sorge
für die Zukunft unseres Volkes, das ja einmal diese Ungeheuerlichkeiten
büßen muß, sondern deswegen weil ich mcht glauben
will, daß Hitler so etwas will, daß es deutsche Menschen
gibt, die solche Befehle geben. Es gibt nur eine Erklärung,
sie sind krank, anormal oder wahnsinnig.
16.06.1943
Jetzt ist der letzte Rest der jüdischen Einwohner im Ghetto
ausgetilgt worden. Ein SS
Sturmführer prahlte damit, wie sie die Juden, die aus den
brennenden Häusern stürtzten,
zusammengeknallt hatten. Das ganze Ghetto ist eine Brandruine,
so wollen wir den Krieg
gewinnen, diese Bestien. Mit diesem endsetzlichen Judenmassemord
haben wir den Krieg
verloren, eine unaustilgbare Schande, immer einen unauslöslichen
Fluch haben wir auf uns
gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig.
Ich schäme mich in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das
Recht vor unser einem auszuspucken, täglich werden deutsche
Soldaten erschossen. Es wird noch schlimmer kommen und wir haben
kein Recht uns darüber zu beschweren, wir haben's nicht anders
verdient, jeden Tag wird es mir unheimlicher hier zumute...
DER SPIEGEL No 12 vom 16.03.1998
Nr. 9/1998,
Ihre Vornehmheit in allen Ehren, gegen Sippenhaftung sind wir
alle; und doch scheint mir interessant zu sein, daß es sich
bei dem von Ihnen erwähnten NS-Propagandisten Helmut Gauweiler
(,,Polen war seit je her der jüdische Sumpfquell") um
den Onkel des Münchner CSU-Vorsitzenden Peter Gauweiler handelt,
nicht zu verwechseln mit dem Vater Otto, der als Hauptstellenleiter
im Reichsrechtsamt der NSDAP zu Diensten war.
HORST TOMAYER
AUTOR UND TV-SERIENDARSTELLER
Daß es ein deutscher Soldat war, der dem jungen polnisch-jüdischen
Musiker das Überleben ermöglichte, ist das eigentliche
Wunder, denn es waren deutsche Besatzer, vor denen Szpilman sich
verstecken mußte. Auch wenn der Antisemitismus der Polen
die Schwierigkeiten vergrößerte. Erinnert sei daran,
daß es in den Nazi-Jahren auch in Berlin Juden und Halbjuden
im Untergrund gab, die ohne die Hilfe einiger Mitmenschen diese
Zeit nicht überstanden hätten. Eine generelle Entlastung
kann diese Tatsache allerdings nicht sein - dazu waren es zu wenige.
Die Scham muß bleiben.
TRAUTE SACHS
Der Brahms-Brief über dem Flügel von Herrn Szpilman
wurde 1872 geschrieben. Sütterlin ist 1865 geboren,,,seine"
Schrift hat er um 1912 aus der alten deutschen Schreibschrift
entwickelt, mit geringfügigen nderungen in den Auf- und Abstrichen.
Erst um 1934 wurde ,,Sütterlin" versuchsweise an deutschen
Schulen eingeführt - aber schon nach kurzer Zeit wegen ,,Verweigerung"
von Schülern und Leh- rern wieder aus dem Verkehr gezogen
und durch die lateinische Schrift ersetzt.
ADOLF GLASER